.
Franz von Sales - Der Weg zu GOTT 

Franz von Sales - Weg zu GOTT
Otto Karrer (Fortsetzung)

Geduld
Jedem Menschen, so heilig er auch sei, bleiben immer Unvollkommenheiten. Man tut also den Heiligen nicht unrecht, wenn man bei der Beschreibung ihrer Tugenden auch von ihren Sünden und Fehlern spricht. Im Gegenteil, mir scheint ein Unrecht gegen alle Menschen darin zu liegen, wenn man im Bestreben oder unter dem Vorwand, die Heiligen zu ehren, ihre Fehler und Unvollkommenheiten verheimlicht, aus Furcht, es könnte dadurch die Ehrfurcht vor ihrer Heiligkeit beeinträchtigt werden. Das ist gewiss nicht der Fall; wohl aber geschieht den Heiligen selbst, wie auch den späteren Geschlechtern, großes Unrecht. Wenn Heilige das Leben anderer Heiligen schrieben, haben sie offen und unbefangen von deren Mängeln gesprochen und waren überzeugt, Gott und den Heiligen damit mehr zu gefallen als durch einseitige Beleuchtung ihrer Tugenden. Nicht umsonst haben Lehrer des geistlichen Lebens die Beobachtung gemacht, dass Gott auch den heiligsten Seelen gewisse Fehler lässt, die sie trotz allen guten Willens nicht ablegen können. Er will ihnen dadurch fühlbar machen, sagen sie, was sie ohne seine Gnade werden könnten, und sie in einem gewissen Misstrauen gegen sich selbst erhalten, das sie vor den Fallstricken der Eigenliebe sichert; auch ist es eine Anregung für ihren Eifer, lässt sie immer wieder sich im Gottvertrauen üben und ihre Zuflucht zum Gebete nehmen.
Das gilt auch uns zur Lehre und zum Trost. Die Fehler, die uns zustoßen, geben uns oft Anlass zu Tugenden, wozu wir sonst keine Gelegenheit gehabt hätten. Gott lässt zum Beispiel Übellaune, Ungestüm, Heftigkeit in uns zu, damit wir uns demütigen - und das gleicht den Fehler samt dem Ärgernis hinlänglich aus. Der Fehltritt geschah aus Übereilung, die Buße geschieht mit Überlegung, mit Selbstüberwindung, mit bewusstem, freiem Willen - ist also wohlgefälliger vor Gott, als der Fehler Ihm missfällig war. O kostbare Unvollkommenheiten, die uns unsere Armseligkeit fühlen lassen, uns in Demut, Selbstverachtung, Geduld und Eifer üben! Gott sieht nicht auf die Fehler, sondern auf das Herz, wenn nur dieses gut ist.
Mache dich ja nicht mit hastiger Unruhe auf die Jagd nach der Vollkommenheit! Gott ist nicht im Sturm und nicht im Feuer, sondern in jenem stillen, milden Säuseln, dessen Hauch du kaum spürst. Lass dich von Gott führen und denke nicht so viel an dich!
Die Besorgnisse, die wir wegen unseres Fortschrittes im Dienste Gottes in uns näh­ren, sind Gott keineswegs zur Ehre und dienen nur der Eigenliebe, die uns immer treiben und quälen möchte, ja recht viel zu tun, wenn es gleichwohl nicht gut getan werden kann. Halte alle Wünsche für verdächtig, die nach dem gewöhnlichen Urteil vernünftiger Menschen nicht zur Ausführung kommen können, zum Beispiel das Verlangen nach einem gewissen Grad von Heiligkeit, den man sich wohl vorstellen, aber nicht verwirklichen kann, worüber man schöne Anweisungen geben, aber wonach man nicht leben kann.
Wisse, dass die Geduld es ist, die uns am besten im Guten fördert! Und soweit man sie gegen andere üben soll, darf man sie auch mit sich selber tragen. Ja, wer nach reiner Liebe Gottes strebt, bedarf wohl mehr Geduld mit sich selbst als mit anderen.
Man muss also seine Unvollkommenheiten ertragen, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Ich sage nicht, man solle sie lieben, hätscheln, sondern man solle sie in Geduld ertragen. So wächst die Demut und die Liebe.
Lasst uns ehrlich gestehen: Wir sind arm und vermögen nicht viel Gutes. Gott aber, der Allgütige, ist mit unseren kleinen Anstrengungen zufrieden und sieht auf das Herz. „Das Seufzen der Armen hörest Du, o Gott, denn Du bereitest ihr Herz!"
Unsere Unvollkommenheit begleitet uns bis zum Grabe. Wir können nicht gehen, ohne die Erde zu berühren. Man soll sich nicht im Schmutz wälzen, man soll aber auch nicht fliegen wollen. Nach und nach ist's, dass wir sterben; auch unsere Mängel werden nach und nach sterben.
Ich begreife wohl, dass du ohne Unvollkommenheiten sein möchtest. Aber es heißt Geduld haben. Wir sind Menschen, nicht Engel. Gewiss sollen wir an unseren Fehlern nicht achtlos vorübergehen, sondern mit dem Apostel sprechen: „O ich Unseliger, wer wird mich befreien vom Leibe dieses Todes?" Aber wir dürfen uns nicht verwundern oder gar entmutigen lassen. Wohl liebt Gott nicht unsere Gebrechen und Fehler, aber uns selbst liebt Er mit ewiger Liebe. Siehe, die Schwächen und Mängel ihres Kindes gefallen der Mutter wahrlich nicht, und dennoch liebt sie ihr Kind mit jeder Faser ihres Herzens. So bleibt auch Gottes Liebe zu seinen Kindern gleich, trotz ihrer mancherlei Gebrechen, die Er kennt.
Daraus lerne drei Wahrheiten.
Die erste: Oft glaubst du, du habest den Frieden verloren, weil Bitterkeit und Miss­trost dich verwirrt. Und doch hast du ihn nicht verloren, wenn du in dieser Prüfung dich selbst nicht verlierst und deinen Gott.
Die zweite: Wenn Gott die Reste des alten Menschen von dir reißt, so tut es dir recht weh; aber du darfst deshalb nicht verzagen und glauben, Gott habe sich von dir zurückgezogen.
Die dritte: Alles, was dich auf deinem guten Weg beunruhigt und verwirrt, kommt nicht von Gott; Gott ist der Fürst des Friedens; es sind vielmehr Versuchungen des Feindes, der auch der Feind des Friedens ist.
Die Unruhe entspringt dem ungeordneten Verlangen, von einem Übel frei zu wer­den, das man fühlt, oder ein Gut zu erlangen, das man wünscht. Aber durch nichts wird das Übel mehr verschlimmert und das Gut weiter entrückt, als gerade durch Unrast und Ungeduld. Die Vögel bleiben im Garn oder in der Schlinge gefangen, ob sie auch noch so hastig hin und her flattern und sich loszumachen streben; sie verstricken sich dadurch nur umso mehr. Die Unruhe ist nicht nur in sich selbst eine Versuchung, sondern ihrerseits die Quelle vieler anderer Schwierigkeiten.
Fühlst du in dir ein heftiges Verlangen, von einem Übel frei zu werden oder eines Guts dich zu bemächtigen, so gilt es vor allem, dein Herz zur Ruhe und Gleichmäßig­keit zu stimmen, ruhiges Urteil und klare Besonnenheit zu bewahren. Erst dann treffe sanft und gelassen deine Maßnahmen, indem du nach vernünftigem Plan die Mittel anwendest, die zum Ziele führen können.
Wenn ich sage: sanft und gelassen, so empfehle ich damit nicht ein phlegmatisches oder nachlässiges, sondern ein von Hast und Unruhe freies Vorgehen. Ohne diese nüchterne Besonnenheit würdest du, statt deinen Zweck zu erreichen, vollends alles verderben und dich immer mehr verstricken.
„Meine Seele ist allezeit in meinen Händen", sprach David, „und Deines Gesetzes, Herr, vergesse ich nimmermehr." Prüfe dich von Zeit zu Zeit, ob du deine Seele in deinen Händen hast oder ob vielleicht irgendeine Leidenschaft oder Unruhe dir die Herrschaft über sie entwunden hat.
„Meine Augen sind immerdar auf den Herrn gerichtet; Er wird meine Füße lösen aus den Schlingen meiner Feinde." Bist du in die Netze der Widerwärtigkeiten geraten, sieh nicht auf deine Not, noch auf die Schlingen, die dich halten, sondern schau auf Gott und lass Ihn walten.
Er wird für dich sorgen. „Wirf deine Sorgen auf Ihn; Er wird dir hilfreich sein!"
Quäle dich nicht mit unnützer Sorge!
Es ist genug, dass wir die Leiden tragen, wie sie der Reihe nach kommen; es hat aber keinen Sinn, im Voraus sich zu fürchten und zu ängstigen. Wir haben niemand zu fürchten als Gott; Ihn aber mit einer kindlichen, liebreichen Furcht.
Wenn also deine Seele in einen Fehler gefallen ist, so rege dich nicht auf über sie mit leidenschaftlicher Bitterkeit, sondern mahne sie mit sanftem Ernst und mildem Verstehen und reiche ihr in Liebe die rettende Hand. Du tust an dir nichts anderes, als was Gott selber an dir tut, und deine milde Art wird nachhaltiger und tiefer wir­ken als scharfer Zorn und Bitterkeit: Sie wird dich rühren und mit heiligem Schmerz durchdringen; vor heftigen, bitteren Vorwürfen aber wird sie sich umso mehr ver­schließen.
Siehe, wenn ich mir vorgenommen hätte, mich besonders vor jeder eitlen Regung in Acht zu nehmen, und wäre doch in einen bedeutenden Fehler dieser Art gefallen, dann würde ich nicht etwa zu meiner Seele sagen: „Pfui, wie verächtlich du bist, nach so heiligen Entschlüssen doch wieder deinem Laster zu frönen! Schäme dich zu Tod und wage es nicht mehr, zu Gott aufzuschauen, da du so treulos warst!" - Nein, ich würde mit Teilnahme und Verstehen zu ihr sagen: „Meine arme Seele, siehe, wir sind gefallen und waren doch so fest entschlossen, aufrecht unsern Weg zu gehen. Aber Mut, erhe­ben wir uns von unserem Fall, um von jetzt an stärker zu sein! Komm, lass uns zum barmherzigen Gott gehen, damit Er uns an seiner starken Hand führe, und beugen wir uns in Demut! Er wird uns groß und stark machen, wenn wir arm und klein sind."
So wandle du vor Gott in Demut und Geduld und sei nicht kleingläubig, sondern gläubig! Halte fest an dem schönen Streben deiner Seele, das dich aufwärts zieht, und wenn du trotzdem den Bann der Erde auf dir lasten fühlst, verzage nicht, sondern bleibe groß und stark im Vertrauen auf Gott! Unvollkommen wirst du bleiben alle Tage deines Lebens und du wirst den Tag nicht schauen, wo es nichts mehr zu bessern gäbe. Durchdringe dein Herz mit dieser Einsicht! Dann wird sich deine Seele - wie mit Geduld mit dir selbst - auch mehr und mehr mit Güte gegen die Menschen füllen, die ja trotz allem Meisterwerke der göttlichen Liebe sind und eine Ewigkeit in sich tragen. Siehe, wie der Heiland sie ertragen und geliebt hat, so sollst auch du sie ertragen in mil­dem Verstehen.
So bleibe im Frieden bei allem, was Gottes Vorsehung dir schickt! Wenn dein Herz aufstöhnt im Leid und schwere Sorge dich bestürmt: Bleibe im Frieden! Wenn ein großes Glück dir begegnet und deine Seele in Jubel erzittern möchte: Bleibe im Frieden! Wenn ein Übel vor dir steht, das es zu fliehen gilt, so tue es ohne Verwirrung oder Aufregung: Bleibe im Frieden!
Grüble nicht über die Seltsamkeiten dieses Lebens. Suche Gott einfältigen Herzens, suche Ihn in allen Dingen und du wirst Ihn finden und in Ihm die Ruhe deines Her­zens.
Lass alles, was du tust, ein Spiegel sein deiner innigen Einheit mit Gott!
Auch im Guten überstürze dich nicht; tue ruhigen Herzens und abgeklärten Sinnes, was du tust! Und wenn heftiger Sturm dich umtobt, verliere nicht die Ruhe deiner Seele!
Siehe, was sind alle Dinge dieses Lebens, wenn du sie vergleichst mit Gottes heiligem Frieden?
Was gibt es im Himmel und auf Erden, das auch nur im Geringsten der Seelenruhe gleichkäme?
Alles, was es Glänzendes, Ehrenvolles und Köstliches auf dieser armen Erde gibt, ist nichts im Vergleich zur Heiterkeit eines befriedeten Geistes.

(Quelle: "Dienst am Glauben", Heft 2-2017, S. 35-38,  A-6094 Axams)



Impressum
zurück zur Hauptseite